Freitag, 5. April 2013




Hier nun der dritte Teil aus dem letzten Kapitel der Vorabveröffentlichung des Buches “Autism and the Seeds of Change” von Abigail Marshall und Ron Davis in deutscher Übersetzung. Dieser Teil bietet verschiedene anschauliche Fallgeschichten. Die ersten Auszüge des Buches sind in den letzten beiden Monaten erschienen. Die betreffenden Artikel finden Sie unter folgenden Links: Davis-Buch Autismus – 1. Teil, 2. Teil und 4.Teil.


 Wir hoffen, Ihnen bis zum Erscheinen der deutschen Übersetzung (voraussichtlich im Mai diesen Jahres) so die Wartezeit ein wenig verkürzen zu können.


Ihr Davis-Team


 Vorabveröffentlichung Kapitel 12 / 3. Teil

2. Woche, Februar. Identitätsentwicklungsbegriffe bis „Emotion“

6. Tag: Ich bin begeistert über die erstaunliche Veränderung von Amber. Ihre Augen sind klar und haben einen Glanz, der vorher nicht da war. Sie sucht den Augenkontakt und will mir alles erzählen, was sie seit dem letzten Mal gemacht hat. (Sie hat einen JOB angenommen, … was sie früher nicht durfte – nun aber, nach dieser Entwicklung, schon!) Bei unserer Überprüfung der Begriffe, die wir bisher erarbeitet hatten, hatte sie alle behalten – wir hatten viel Spaß, als wir uns die Bilder ihrer Modelle aus der ersten Woche ansahen und sie jedes einzelne Teil bestimmen konnte. Ihr Vater richtete aus, dass die Verhaltensfragen in der Wohngruppe fast völlig geklärt seien. Diese Auswirkungen auf die Situation belegen, dass Amber seit unserer letzten Sitzung den Inhalt von Konsequenz integriert hatte.

7. Tag: Wahrnehmung und Denken gingen gut. Ambers feinmotorische Fertigkeiten werden besser. Kneten scheint ein bisschen leichter zu gehen. Sie beginnt sich mehr zu öffnen und sucht immer öfter Augenkontakt.

8. Tag: Wir haben Erfahrung abgeschlossen und hatten eine echt lustige „Exkursion“, um gemeinsam neue Erfahrungen zu machen. Es war eine Bindungsübung. Amber scheint interessierter an anderen Menschen zu sein. Sie machte eine Bemerkung über den kleinen Laden, den wir gefunden hatten – so etwas wie, dass er ein Ort sei, an den ihre Großmutter gerne gehen würde. Sie hatte Augenkontakt mit dem Mann an der Kasse und schien mich zu beobachten, als ich mit ihm interagierte und redete.

9. Tag: Alle Begriffe schienen gut zu gehen. Ich war beeindruckt, wie leicht sie sich Energie und Kraft aneignete.

10. Tag: Wir gingen heute sehr viele Begriffe durch. Ich hatte nicht erwartet, dass Emotion so schnell gehen würde. Die Entdeckungsphase war lustig. Ambers Gesichtsausdruck wechselte, sobald wir bei verschiedenen Leuten unterschiedliche Emotionen sahen. Hier begann sie auch das erste Mal, unaufgefordert zu reden. Bei McDonald´s sah sie einen Mann mittleren Alters auf eine kleine alte Frau zugehen und sagen: „Hallo, junge Frau!“ Die alte Dame war entzückt. Ambers Augen huschten zu mir und sahen mich direkt an, wie um zu sagen „Ich habe verstanden, dass das ein Witz war!“ Sie kicherte. Was folgte, war noch erstaunlicher. Amber begann, mir von ihrer Großmutter zu erzählen. Sie erzählte eine lange, detaillierte Geschichte darüber, dass ihre Großmutter aus Schottland kam und ihren Mann im Krieg getroffen hatte, als er Soldat gewesen war. Noch am selben Tag wiederholte ich die Geschichte gegenüber Ambers Mutter – die erstaunt war und sagte: „Das hat Amber Ihnen alles erzählt?“ Später fand ich heraus, dass die Familie völlig ahnungslos war, dass Amber diese Geschichte kannte und fassungslos, dass sie tatsächlich all diese Informationen aufgenommen hatte.

3. Woche, April. Abschluss, Identitätsentwicklung bis hin zum Ordnungschaffen; soziale Integration mit Beziehungsbegriffen

11. Tag: Es war großartig zu hören, dass Amber angefangen hatte, zu arbeiten! Sie ist SO glücklich. Sie kann jetzt ohne direkte Personalaufsicht arbeiten. Fertigkeit ging sehr gut. Wir gingen in die Spielhalle. Amber hatte einen Wahnsinnsspaß. Ihre Augen strahlten, sie fühlte sich versiert und sie lernte und verbesserte sich mit jedem Spiel, das sie spielte.


12. Tag: Heute war ein guter Tag. Amber besprach mit ihrer Mutter und mir unseren geplanten Ausflug in die Wohngruppe morgen. In Bezug auf einige Dinge war sie sehr hartnäckig – wer Dienst hatte, um welche Zeit ihr Mitbewohner nach Hause kam, und dass sie fertig sein wollte, bevor sie zurückkamen. Innerlich jubelte ich – aber ich glaube, ihre Mutter musste sich auf Ambers neu entdeckte Stimme erst einstellen. Ich erinnerte sie daran, dass dies gut ist … wir wollen, dass Amber fähig ist, vollständig am Leben teilzunehmen, und sich selbst und ihre Meinung in Bezug auf ihre Umgebung zu äußern, war Teil davon. Ihre Mutter stimmte zu.

13. Tag: Wir hatten Spaß heute … ich war in Ambers Wohngruppe, um die letzte Ordnungschaffen-Übung zu machen. Als wir ihr Zimmer betraten, dachte ich zuerst „Hoppla!“ – es war nahezu perfekt aufgeräumt. Es gab praktisch nichts, was nicht an Ort und Stelle lag. Aber dann öffneten wir den Schrank … und „Bingo!“ – wir verbrachten zwei Stunden damit, und als ich ging, war er vollkommen aufgeräumt. Einmal fragte ich sie, ob sie eine Pause machen wolle, und sie sagte: „Nein, jetzt nicht.“ Wenn ich sie bisher gefragt hatte, hatte sie immer das Gegenteil geantwortet.

14. Tag: Die Beziehungsbegriffe gingen ganz gut. Amber schien ziemlich interessiert zu sein. Ihre Mutter sagte, dass Amber während der GESAMTEN Fahrt hierher geredet hatte. Sie sagte, das war eine große Veränderung; früher wären sie still gewesen und hätten Radio gehört. Ihre Mutter sagte: „Sie hat so viel Zeit ihre Lebens schweigend verbracht … sie hat eine Menge zu erzählen!“

15. Tag: Die restlichen Begriffe (wir hatten nur noch zwei übrig) gingen gut. Unsere Feier war großartig und ich übergab Amber eine Vollendungs-Urkunde. Ihr Vater hielt eine Rede darauf, wie dankbar er war für die Veränderungen, die sie bereits bis jetzt bei Amber gesehen hatten. Er sei begeistert und könne es nicht erwarten zu sehen, wohin sie das führen würde. Ich erinnerte ihn daran, dass das nicht das Ende war … tatsächlich war es der Anfang … wenn sie anfing, ihre zukünftigen Erfahrungen durch diese neuen Begriffe zu filtern.

Fallbeispiel: Erfahrungen eines Erwachsenen nach 18 Monaten

Davis®Beraterin Christien Vos aus den Niederlanden arbeitete im Verlauf eines Jahres mit einem männlichen Erwachsenen. Sie trafen sich einmal alle zwei Wochen. Er hat mit dem Programm gekämpft und war oft streitlustig und widerständig; trotzdem hat er nach Abschluss des Programms tiefgreifende Veränderungen in seinem Leben erfahren:

Mit 39 Jahren lebte Willem, ein hoch funktionaler männlicher Autist, alleine und hatte keine Freunde. Als er zu mir kam, war er unfähig, mehr als eine Aufgabe am Tag zu erledigen, und er war wiederholt dabei gescheitert, eine Arbeit zu bekommen oder zu behalten. Er war sehr argwöhnisch und hochsensibel und stotterte. Er war auch extrem intelligent, aber es fehlte ihm an Kreativität.


Das Davis®-Autismus-Programm war ein harter Weg für ihn. Er hasste es, mit Knete zu arbeiten, stellte am Anfang viele der Begriffe in Frage und widersetzte sich. Gleichwohl hörte er nicht auf, ein Jahr lang einmal alle zwei Wochen zu mir zu kommen. Im Laufe der Zeit nahm seine Abneigung ab und unsere Auseinandersetzungen wurden kürzer und weniger angreifend/ verteidigend. Er begann das Gefühl zu mögen, das jeder beherrschte Begriff ihm gab.

Weil er allein lebte, keine Freunde und keine Arbeit hatte, war es schwierig für ihn, im täglichen Leben eine Rückmeldung zu bekommen. Trotzdem konnte er nach ein paar Monaten, als wir seine Erfahrungen aus den zurückliegenden Wochen besprachen, die Veränderungen in seinen eigenen Denkprozessen und seinem Verhalten erkennen.

Nachdem er das Programm beendet hatte, hörte ich eine Weile nichts mehr von ihm. Schließlich, nach 18 Monaten, schrieb er mir eine Email und machte einen Termin aus, damit er von seinem derzeitigen Leben berichten konnte.

Bei diesem Treffen erzählte er von folgenden Veränderungen:

- er hat keine Angst mehr vor anderen, obwohl er immer noch das Gefühl hat, dass er übermäßig argwöhnisch ist, und immer noch stottert;
- er hat in sozialen Situationen einen Überblick, versteht, warum Leute handeln, wie sie handeln, und fühlt sich nicht mehr ängstlich, durcheinander, zornig, verloren oder gestresst;
- er kann mehrere Dinge gleichzeitig machen und mit mehrteiligen Aufgaben in der richtigen Reihenfolge umgehen und dabei entspannt und orientiert bleiben;
- er entwickelt Initiativen und führt sie wirklich aus;
- er wurde kreativer – er hat zum Beispiel angefangen zu zeichnen;
- er ist der Mannschaftskapitän und Webmaster seines Bridgeclubs und schreibt Berichte von Bridgeturnieren für die Bridgegemeinde;
- er ist einer Diskussionsgruppe beigetreten (im wirklichen Leben, nicht im Netz), die sich regelmäßig vor ihren Diskussionen zum Essen trifft;
- er macht Pläne für seine Zukunft.

Fallbeispiel: Ein Kind mit Asperger-Syndrom nach einem Jahr

Davis Beraterin Gale Long konnte ebenfalls von den langfristigen Veränderungen eines jungen Mädchens berichten, mit dem sie gearbeitet hatte. Die Mutter des Kindes lieferte ebenfalls Hintergrundinformationen.


Kaylas Mutter berichtet:

Kayla hatte viele Symptome des Asperger-Syndroms. Neben den sprachlichen Problemen hatte sie mit Wut und Ärger zu kämpfen, war leicht reizbar durch Geräusche, Menschenmengen, Lichter und Gerüche. Ihre motorischen Fertigkeiten waren unterentwickelt, so dass normale Aktivitäten wie Radfahren oder Gehen schwierig waren. Ihre Manien und Zwangsvorstellungen waren Aspekte, die die alltäglichen Handlungen schwierig machten. Das Erkennen sozialer Hinweisreize fehlt, was es ihr erschwert, Gesichtsausdrücke, Körpersprache und die unausgesprochenen Regeln der Gesprächsführung zu deuten. Sie neigte dazu, übertrieben freundlich zu sein. Sie hatte eine ungewöhnliche Empfindlichkeit gegenüber Licht, Lebensmitteln und Berührung. Ihre sensorische Integrationsstörung hatte eine jahrelange Therapie zur Folge. Wie die meisten Autisten hatte sie sowohl Schwierigkeiten mit dem Übergang von einer Handlung zur nächsten als auch mit dem Finden und Behalten von Freunden.

Wir befanden uns während ihrer Grundschulzeit in einem ununterbrochenen Stresszustand. Die Schule hatte keinen Plan, wie sie ihr helfen konnte. Sie wussten nicht, wie sie mit ihr im Klassenraum umgehen sollten. Die Schüler wussten nicht, wie sie mit ihr interagieren sollten. Sie machten sich über sie lustig, und weil sie sprachlich unterlegen war, fing sie an zu randalieren. Sie wurde wegen ihres Benehmens der Schule verwiesen und kam in der vierten Klasse auf eine Schule für verhaltensauffällige Kinder. Als sie in die Mittelstufe kam, war Kayla konfrontiert mit Chaos, Angst, Sich-anpassen-wollen und Sich-abgelehnt-fühlen. Sie hatte keine Freunde und wurde gemobbt. Die Fachleute sagten, ich müsse die Tatsache akzeptieren, dass es sich bei Kayla nie würde verbessern können.

Die Autismus-Beraterin berichtet:

Bei unserem ersten Treffen kam Kayla zurückhaltend herein. Sie versteckte sich ein wenig hinter ihrer Mutter und klammerte sich an ihre Hand, als ob etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie losließe. Aber so, wie sie mich mit ihren schönen blauen Augen und langen Wimpern ansah, war sie offensichtlich neugierig. Als sie anfing, sich in meiner Gegenwart mehr zu entspannen, wurde sie übermütig und begann zu kreischen und auf und ab zu springen. Mit offensichtlicher Begeisterung vertraute sie mir einige Erfahrungen an, aber ich hatte solche Schwierigkeiten, ihre Sprache zu verstehen, dass ich so tun musste, als wüsste ich, was sie gesagt hatte.

Beobachtungen der Autismus-Beraterin – ein Jahr nach dem Davis-Autismus-Programm:

Kürzlich habe ich mich mit Kayla nach der Schule zum Essen getroffen. Als die Schüler aus dem Unterricht entlassen wurden, bemerkte ich Kayla, die in aller Ruhe den Fußweg entlang ging und mit einem Freund klönte und lachte. Was für ein Unterschied! Vor einem guten Jahr war es normal gewesen, dass die anderen sie schikanierten oder auf dem Spielplatz links liegen ließen, wenn ich sie zu ihren Autismus-Sitzungen abholte. Oftmals hatte sie geweint. Es tat mir leid, dass sie so kämpfen musste, um in ihre Welt hineinzupassen.

Heute hat Kayla viele Freunde, die sie gleichberechtigt behandeln. Gerade neulich hat Kayla an einem zweitägigen Ausflug mit Floßfahrt teilgenommen. In den vorherigen Jahren hatte sie nie Freunde und nicht die Fertigkeit, Übernachtungserfahrungen zu sammeln. Das war also enorm – fähig zu sein, Ängste und unzureichende soziale Fertigkeiten zu überwinden, um tatsächlich einen schönen Tag mit Freunden genießen zu können! Kayla kämpft manchmal immer noch, aber sie hat die Werkzeuge und die Fähigkeit, Situationen zu beurteilen und angemessen zu reagieren. Von Kayla zu lernen, wie schwierig alles aus der autistischen Perspektive ist, war lehrreich für mich.

Als wir mit dem Essen fertig waren, bat ich Kaylas Mutter, in drei Worten zu beschreiben, wie Kayla vor ihrem Autismus-Programm war. Sie antwortete: Isolation, Frustration und Traurigkeit. Die drei Ausdrücke, mit denen sie Kayla jetzt beschreibt: Hoffnung, Leichtigkeit der inneren Einstellung und Freude.

Ängstlich erwartete ich Kaylas Antwort auf die gleichen Fragen. Sie dachte sorgfältig darüber nach und sagte mir drei Worte für vorher: Traurigkeit, Einsamkeit und Kummer. Heute sagt sie, sie fühlt sich glücklich, einbezogen und zuversichtlich.

...Fortsetzung folgt im nächsten Monat.

Auszug aus der Übersetzung des Buches: “Autism and the Seeds of Change” von Abigail Marshall mit Ronald D. Davis, Übersetzung: Dr. Andrea Paluch, erscheint voraussichtlich Mai 2013.


Im deutschsprachigen Raum und Luxembourg gibt es inzwischen 8 ausgebildete Davis®-Autismus-Berater/innen, die Sie ebenfalls bei den Davis-Berater-Adressen finden, oder aber per Email erfragen können: info@dyslexia.de.


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