Donnerstag, 19. Juli 2012



Frühe Definitionen von Legasthenie

Der Begriff »Legasthenie« wurde 1887 von Dr. Rudolf Berlin geprägt. Legasthenie wurde als ein Zustand verstanden, der sich entwickelt, und nicht als etwas, womit man geboren wird. Dr. Rudolf Berlin legte nahe, dass die Leseunfähigkeit nicht auf eine Gehirnverletzung, sondern auf eine »zerebrale Erkrankung« zurückzuführen sei.



Dr. J. Hinshelwood wies darauf hin, dass Legasthenie von der »Unterentwicklung des Gyrus angularis« herrührte und der amerikanische Arzt Samuel Orton ging noch weiter und vertrat die Meinung, dass es sich bei der Legasthenie um eine Entwicklungsstörung zusammen mit umweltbezogenen Faktoren handelte, die nicht gänzlich angeboren seien oder von Eltern an Kinder weitergegeben würden. Die Begriffe, die Sie in Zusammenhang mit der Legasthenie am häufigsten hören – abgesehen von den sehr allgemeinen Wörtern »Lernbehinderung« oder »Lernschwierigkeiten«, die oft statt »Legasthenie« verwendet werden – sind »Aphasie« und »Wortblindheit«.

Aphasie

Das war der allererste Ausdruck, der in Zusammenhang mit Legasthenie verwendet wurde, die ursprünglich als eine Form von Aphasie definiert wurde. Aphasie wird folgendermaßen definiert: »Infolge einer Gehirnverletzung auftretender Verlust oder Beeinträchtigung der Fähigkeit, Wörter zu verwenden oder zu verstehen.« Genaugenommen unterscheidet man vier Arten von Aphasie:  

Sensorische Aphasie – Schwierigkeit, gesprochene Sprache zu verstehen, 
Motorische Aphasie – Schwierigkeit, sich sprachlich auszudrücken,
Alexie – Leseschwäche und 
Agraphie – Schreibschwäche. 

Als der Begriff Legasthenie eingeführt wurde, wurde er im Allgemeinen der Aphasie als eine Form von Alexie zugeordnet.

Wortblindheit

Dieser Ausdruck wurde 1877 von Adolph Kussmaul geprägt. Obwohl man dachte, dass Wortblindheit durch Gehirnverletzungen verursacht wird, wurde der Begriff ebenfalls in Zusammenhang mit Patienten angewendet, deren Seh- und Sprechfähigkeiten und Intelligenz intakt waren, die aber außerstande waren, ihnen bereits bekannte Wörter wieder zu erkennen. Man schlug vor, den Gyrus angularis, die Sprachregion im Gehirn, als den für die Wortblindheit verantwortlichen Teil des Gehirns zu lokalisieren. 1896 berichtete Dr. W. Pringle Morgan in England den ersten Fall von angeborener Wortblindheit bei einem Kind.



„Das Bildungssystem wurde um die nichtlegasthenischen Normen herum angelegt. Für diejenigen, die mit diesem System nicht ohne weiteres zurechtkamen, waren die Etiketten »Legasthenie« und »lernbehindert« bequemerweise zur Hand.“  
Robin Temple

Eine andere mögliche »Ursache«

Offensichtlich existierten die Probleme der Legasthenie bereits, bevor Wissenschaftler und Ärzte sie bei ihren Patienten beschrieben. Doch wurden sie zunächst mehr als obskurer Zustand verstanden, über den die medizinischen Zeitschriften berichteten. Um die Jahrhundertwende begann man in den USA und in vielen europäischen Ländern eine Politik der »universellen Alphabetisierung« zu propagieren. Die Regierungen waren zu der Ansicht gekommen, dass allen Kindern das Lesen beigebracht werden sollte und es nützlich sei, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft lesen und schreiben könnten. Bevor diese Entscheidung getroffen wurde, hatte man Analphabeten nicht als ein Problem angesehen. Als die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben zur neuen Norm erklärt wurde, entstand dadurch zwangsläufig eine neue Kategorie von Bürgern – diejenigen, die nicht lesen konnten oder die große Schwierigkeiten beim Lesen hatten. Diese Menschen galten als weniger wert innerhalb der Gesellschaft. Die Normen der nichtlegasthenischen Welt wurden als allgemeingültige Normen angenommen. Diejenigen, die sich unbehaglich dabei fühlten, in der nicht-legasthenischen Welt zu funktionieren, wurden zwangsläufig benachteiligt. Das Bildungssystem wurde um die nicht-legasthenischen Normen herum angelegt. Für diejenigen, die mit diesem System nicht ohne weiteres zurechtkamen, waren die Etiketten »Legasthenie« und »lernbehindert« bequemerweise zur Hand. Seit diesen sehr frühen Versuchen, die Symptome der Legasthenie auf eine Ursache zurückzuführen, wurde viel Forschung betrieben, um die verschiedenen Hypothesen zu prüfen und zu beweisen. Bis heute ist es nicht gelungen, einen schlüssigen Beweis zu erbringen.

Der aktuelle Stand der Forschung

Gegenwärtig konzentriert sich die Legasthenieforschung auf vier Schlüsselbereiche. Man will: 
(1) den Beweis liefern, dass die Gehirnstruktur bei Legasthenikern anders ist als bei Nichtlegasthenikern.
Verschiedene Teile des Gehirns werden untersucht, um herauszufinden, ob signifikante Unterschiede zwischen Legasthenikern und Nicht-Legasthenikern vorliegen. Falls Unterschiede festgestellt werden, muss ermittelt werden, ob sie die Ursache oder die Folge von Legasthenie sind.
(2) ein Legasthenie verursachendes Gen finden. Wenn ein solches Gen gefunden wird, könnte man vorhersagen, ob ein Kind Lernschwierigkeiten haben wird. Mehrere Forschungslabors behaupten, eben dieses Gen gefunden zu haben, aber leider hält jedes Labor ein anderes Gen für verantwortlich. 

















 (3) die Genauigkeit verschiedener Erklärungsmodelle der Legasthenie miteinander vergleichen. Dieser Forschungsbereich setzt sich mit den verschiedenen Behandlungsmethoden für lernbehinderte Kinder auseinander.
Es werden Angaben aus Tests gesammelt, die auf unterschiedlichen Modellen von der Funktionsweise der Legasthenie fußen. Diese werden miteinander verglichen, um die Effektivität und Genauigkeit jedes Modells zu ermitteln. Das Problem mit dieser Art Forschung ist, dass es sehr schwierig ist, einen allgemeinen Maßstab zu finden, nach dem verschiedene Behandlungsformen zu beurteilen sind.
(4) erklären, wie Legastheniker sich von Nicht-Legasthenikern in Hinblick auf die Informationsverarbeitung im Gehirn unterscheiden. Viele verschiedene Theorien und Modelle versuchen die komplexen Vorgänge zu erklären, die vor sich gehen, wenn ein Kind liest. Es herrscht jedoch keine Übereinstimmung darüber, welche Teile des Prozesses fehlerhaft sind. Möglicherweise ist der fragliche Teil des Prozesses nicht bei allen legasthenischen Kindern der gleiche, so dass viele Gründe für die gleichen Symptome vorliegen können.

Der Zusammenhang zwischen Ursachen und Symptomen

Der Zusammenhang zwischen den Legastheniesymptomen und den möglichen Ursachen ist sehr schwer nachzuweisen. Jedes legasthenische Kind weist einen unterschiedlichen Symptomkomplex auf, der sich von jeder beliebigen Kombination von Ursachen ableiten lassen könnte. Das einzig Brauchbare, was gesagt werden kann, ist folgendes: Die Symptome sind Beschreibungen einer Störung in der Art und Weise, wie ein Kind Informationen verarbeitet und wiedergibt. Wo, wann und wie diese Störung vor sich geht, kann manchmal beschrieben werden, aber es gibt genügend Abweichungen, die darauf schließen lassen, dass mehr als eine Ursache am Werke sein kann. Man weiß noch nicht genug über die komplexen Vorgänge, die mit dem Empfangen, Verarbeiten und Erzeugen von Informationen verbunden sind, um irgendeine Ursache präzise beschreiben zu können.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch von Robin Temple: Legasthenie und Begabung, Ronald Davis und traditionelle Methoden. Ein Vergleich.
© 2004 Ariston Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. 
Das Buch ist ein praktischer und übersichtlicher Wegweiser durch das weite Gebiet der Erkennung und Behandlung der Legasthenie und eignet sich auch gut für „betroffene“ Eltern von Legasthenikern.

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