Sonntag, 2. September 2012


Lassen Sie uns gemeinsam eine typische Situation betrachten, die das allgemein fehlende Verstehen des sogenannten Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms illustriert, bevor wir darin eintauchen, wie ADHS sich entwickelt.

Die beiden Hauptpersonen sind ein fünf- oder sechsjähriger Junge mit ADHS und seine Vorschullehrerin.

Unser Junge ist ein typisches ADHS-Kind – intelligent, kreativ, fantasievoll und hyperaktiv. Er denkt hauptsächlich in Bildern und hat bereits viel Zeit damit verbraucht, sich durch Desorientierung selbst zu unterhalten.

Unsere Erzieherin hat ihren Beruf gewählt, weil ihr Kinder sehr am Herzen liegen. Aber ihre große Kindergartengruppe ist eine echte Herausforderung. Obwohl sie versucht, niemanden zu verurteilen, hat sie unseren Jungen schon am ersten Tag als „eines dieser Kinder“ identifiziert. Er ist pausenlos in Bewegung und hört ihr nie zu. Durch sein Verhalten im Gruppenraum macht er eine an sich schon schwierige Situation noch schlimmer.
Die ersten paar Tage in der neuen Umgebung sind für alle Kinder keine einfache Phase, aber die meisten finden sich bald mit dem Ablauf zurecht – nur dieser Junge nicht. Wenn überhaupt, wird sein Verhalten eher schlimmer. Er bleibt nicht auf seinem Stuhl sitzen, er ist immer überall.
In der Pause kommt es eines Morgens zum Eklat. Die Erzieherin sieht, wie der Junge sich an sechs oder sieben Kindern vorbeidrängelt, die an der Rutsche anstehen. Er drückt sie einfach beiseite, klettert hinauf und rutscht vor ihnen herunter. Das schockiert sie. Dies ist nicht nur unhöflich, es ist auch gefährlich. Sie kann ein solches Verhalten nicht dulden.

Also fasst sie ihn an den Schultern, als er an ihr vorbeigeht, um noch einmal zu rutschen. Er versucht sich loszumachen, aber sie hält ihn fest. Sie beugt sich zu ihm hinunter und sagt mit ihrer strengsten Stimme: „Sieh mich an!“
Als er sie anschaut, sagt sie zu ihm: „Was du getan hast, ist falsch. Du musst warten, bis du dran bist! Verstehst du mich? Du rutscht erst, wenn du dran bist!“
Der Junge schaut sie direkt an, nickt und sagt: „Ja!“
Die Erzieherin lässt seine Schultern los und stellt sich wieder gerade hin. Er rennt sofort zu der Leiter, schiebt sich an einigen Kindern vorbei, klettert hinauf und rutscht herunter.
Jetzt ist sie wirklich entsetzt. Frustriert packt sie ihn an den Schultern, bringt ihn weg vom Hof und verordnet ihm eine Auszeit oder was immer sonst an Disziplinarmaßnahmen erlaubt ist.
Die Erzieherin ist verwirrt und unsicher, was sie als Nächstes tun soll. Der Junge sagte, er verstehe sie, und tat dann genau das, was sie ihm gerade verboten hatte. Ohne irgendeine Intervention, Verhaltenstherapie oder vielleicht ein Medikament wie Ritalin sieht sie keine Hoffnung, ihn zu erreichen oder irgendeine Form der Kontrolle auszuüben.

A n a l y s e 


Was gerade vorgefallen ist, hat die Erzieherin verwirrt. Ihre Schlussfolgerung schien ihr aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Verständnisses der Situation selbstverständlich. Es ist richtig: auf der Basis ihrer bisherigen Erfahrung oder Ausbildung mögen Verhaltenstherapie oder Ritalin die einzigen ihr bekannten Lösungen sein, diesen Jungen zu erreichen. Aber dies ist keine wirkliche Lösung, weil das eigentliche Problem nicht adressiert wird. Sie erfasst nicht, dass ihr eigenes Missverstehen von ADHS die Ursache dafür sein könnte, wie sie sich in dieser Situation fühlt. Sie hat das Gefühl, der Junge habe sich vielleicht so verhalten, um sie zu ärgern. Ihre Schlussfolgerung erscheint logisch, dennoch ist sie falsch.
Tatsächlich aber, wenn man die Veranlagung des Jungen, in Bildern zu denken, sein Erfahrungswissen und seine eingeschränkte Fähigkeit, das zu verstehen, was die Erzieherin zu ihm gesagt hat, bedenkt, dann hat der Junge genau das getan, was sie ihm gesagt hat.
Für unser Verständnis müssen wir berücksichtigen, dass dem Jungen ein richtiger Begriff (im Sinne von wirklichem Verständnis) von „selbst“ und „Veränderung“ fehlt. Sein Erfahrungswissen von Konsequenz ist falsch, ebenso sein Begiff von „Zeit“, „Reihenfolge“ und „Ordnung“.
Er hat entweder ein unkorrektes Verständnis dieser Begriffe oder aber gar keines entwickelt. In der alternativen Realität, die er sich durch die Desorientierung erschafft, geschieht Veränderung nur dann, wenn er Lust dazu hat und Konsequenz existiert überhaupt nicht. Einfache Ideen wie „gut“ und „schlecht“ werden aus dieser Perspektive verstanden. Gut ist, was er mag; schlecht ist, was er nicht mag. Richtig ist, was er will; falsch ist, was er nicht will.
Ohne ein korrektes Verständnis der Begriffe „Veränderung und Konsequenz gibt es nichts Bleibendes. Daher hat er auch keinen Begriff von „vorher“ und „nachher“. Sein Begriff von „Zeit“ ist dehnbar und unzuverlässig für seine Umgebung. Ohne ein klares Verständnis der Begriffe „Veränderung“, „Konsequenz“ und „Zeit“ kann weder der Begriff „Reihenfolge“ existieren, noch die Begriffe „Ordnung“ und „Unordnung“.

W o r t   f ü r   W o r t  

 

Schauen wir uns einmal an, was die Erzieherin zu ihm gesagt hat, und interpretieren wir das Gesagte so, wie er es aus der Perspektive eines Bilderdenkers verstanden haben könnte.

Sie sagt zu ihm: „Was du getan hast, ist falsch!“
In ihm geht Folgendes vor:
  • Das Wort „was“ erzeugt kein Bild, also bedeutet es für ihn nichts.
  • Das Wort „du“ bedeutet er selbst. Sein Bild dafür ist das, was er im Spiegel sieht.
  • „Getan hast“ versteht er aus zwei Gründen nicht. Erstens drückt es eine Vergangenheit von „tun“ aus, die er nicht registriert, weil er kein Verständnis von „vorher“ und nachher“ hat. Zweitens ist dies ein weiteres Wort ohne Bild und hat daher an sich keine Bedeutung. Dieses Wort ist einfach ein leerer Fleck in seiner Vorstellung, also hat er immer noch lediglich ein Bild von seinem Spiegelbild.
  • Das Wort „ist“ erzeugt ebenfalls kein eigenes Bild. Weil es vorher das Wort „du“ gab, verändert sich sein Spiegelbild nicht.
  • Das Wort „falsch“ hat keine Bedeutung, außer vielleicht, dass die Erzieherin ihn nicht mag. Sein geistiges Bild ist nun, dass sie ihn an den Schultern hält.

Demnach hat der Junge von dem ersten Satz verstanden, dass sie ihn an den Schultern hält. Seine Interpretation ist wahrscheinlich: Sie mag mich nicht.“

Dann sagt sie: „Du musst warten, bis du dran bist!“
In ihm geht Folgendes vor:
  • Das Wort „du“ ruft wieder ein mentales Bild von ihm selbst hervor.
  • Das Wort „musst“ erzeugt kein Bild, keine Bedeutung. Das Bild verändert sich nicht.
  • Das Wort „warten“ kann nicht verstanden werden. Warten beruht auf dem Begriff Zeit. Der einzige Zeitbegriff, den er hat, ist die Gegenwart. Wenn er also etwas in der Vorstellung sieht, dann dass sie ihn an den Schultern hält.
  • Das Wort „bist“ erzeugt keine Bild, hat keine Bedeutung. Das Bild verändert sich nicht.
  • Das Wort „du“ ruft wieder ein mentales Bild von ihm selbst hervor.
  • Das Wort „dran“ erzeugt kein Bild. Es beruht auf den Begriffen Zeit, Reihenfolge und Ordnung. Keinen dieser Begriffe kann er verstehen. Kein Bild, keine Bedeutung. 
  • Das Wort „bist“ erzeugt kein Bild, hat keine Bedeutung. Also keine Veränderung in dem bisherigen Bild, in dem er selbst von seiner Erzieherin an den Schultern gehalten wird.

Am Ende dieses Satzes zeigt sein mentales Bild nach wie vor, dass sie ihn an den Schultern hält. Seine Interpretation ist wahrscheinlich immer noch, dass sie ihn nicht mag.

Sie sagt: „Verstehst du mich?“
In ihm geht Folgendes vor:

  • Das Wort „verstehst“ erzeugt kein Bild, hat keine Bedeutung.
  • Das Wort „du“ ruft wieder ein Bild von ihm selbst hervor.
  • Das Wort „mich“ erzeugt ein Bild davon, dass sie ihn an den Schultern hält.

Am Ende des Satzes zeigt sein mentales Bild nach wie vor, dass sie ihn an den Schultern hält. Das Einzige, was er versteht, ist wahrscheinlich immer noch, dass sie ihn nicht mag.

Sie sagt: „Du rutscht erst, wenn du dran bist!“
In ihm geht Folgendes vor:

  • Das Wort „du“ erzeugt wieder ein Bild von ihm selbst.
  • Das Wort „rutscht“ verändert das Bild von ihm selbst in ein Bild von ihm selbst, wie er die Rutsche hinunterrutscht.
  • Das Wort „erst“ bedeutet ihm nichts, verändert das Bild nicht.
  • Das Wort „wenn“ bedeutet ihm nichts, verändert das Bild nicht.
  • Das Wort „du“ verstärkt das Bild von ihm selbst.
  • Das Wort „dran“ bedeutet ihm nichts, verändert das Bild nicht.
  • Das Wort „bist“ bedeutet ihm nichts, verändert das Bild nicht.

Am Ende des Satzes sieht er sich die Rutsche hinunterrutschen. Er versteht, er soll hinunterrutschen. Er sagt „Ja!“ als Antwort auf das, was er verstanden hat, und setzt dies prompt in die Tat um. Er klettert die Leiter hinauf, indem er die anderen Kinder beiseite schiebt, während ihm die Erzieherin ungläubig nachschaut.
 

D o p p e l t e s   M i s s v e r s t ä n d n i s 


Was die Erzieherin hier nicht verstanden hat, ist, dass der Junge exakt das getan hat, was er - basierend auf seiner Fähigkeit, das Gesagte verstehen zu können - meinte, das sie zu ihm gesagt hätte.

Es stimmt, dass sein Verhalten unhöflich und vielleicht sogar gefährlich war. Dies sollte auf jeden Fall effektiv korrigiert werden. Aber weder eine „Auszeit“ oder sonstige Strafen noch Ritalin werden in der Lage sein, das fehlende Verständnis hinzuzufügen, das dieser Junge benötigt, um sein Verhalten zu korrigieren.

Es gibt eine Menge Unsicherheit im Bereich von sowohl ADS als auch ADHS. Beides ist schwer zu diagnostizieren. Die Ursache (Ätiologie) ist unbekannt und die Menschen, die die notwendigen Beobachtungen für eine Diagnose zusammentragen, sind häufig nicht ausreichend ausgebildet. Während die medizinischen Fachleute beschreiben können, wie sich eine ADHS-Person verhält, sind sie sich immer noch über die Ursache dieses Phänomens unsicher und darüber, wie es ohne Ritalin oder verwandte Medikamente zu behandeln ist. Auch wenn Ritalin die Symptome verändern kann, spricht es nicht die eigentliche, darunterliegende Natur des Problems an.

A D H S – V e r h a l t e n   v e r s t e h e n


Unser Verstehen von direkten und indirekten (entwicklungsbezogenen) Wirkungen der Desorientierung kann sämtliche ADS-Symptome mit und ohne Hyperaktivität erklären. Mit diesem Verstehen sollten wir in der Lage sein, dieses Phänomen genau wie folgt zu definieren: altersmäßig unangemessene Unaufmerksamkeit und Impulsivität, mit und ohne Hyperaktivität, begleitet durch spontane Desorientierung.

Aus der Perspektive dieses neuen Verständnisses und der neuen Definition wird es deutlich, dass dieses Problem von zwei Seiten angegangen werden muss, weil zwei Faktoren an seiner Entstehung beteiligt sind: Der Entwicklungsaspekt und die wiederkehrenden Episoden der spontanen Desorientierung.
 
Auszug aus dem Buch: „Die unerkannten Lerngenies“ von R. D. Davis

 

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