Hier nun der zweite Teil aus dem letzten Kapitel der Vorabveröffentlichung des Buchs “Autism and the Seeds of Change” von Abigail Marshall und Ron Davis in deutscher Übersetzung. Er bietet einen Überblick und anschauliche Fallgeschichten. Die anderen Teile des Kapitels finden Sie unter folgenden Links: Davis-Buch Autismus – Teil 1, Teil 3 und Teil 4.
Wir hoffen, Ihnen bis zum Erscheinen der deutschen Übersetzung (voraussichtlich im Mai diesen Jahres) so die Wartezeit ein wenig verkürzen zu können.
Ihr Davis-Team
Vorabveröffentlichung – Kapitel 12 / 2. Teil
4. Angeleitete, teilnehmende und
eingliedernde Beherrschung wesentlicher Begriffe
Das Herz des Davis®-Autismus-Ansatz ist die angeleitete Beherrschung von Schlüsselbegriffen, die die fehlenden Elemente bereitstellen, die notwendig sind, um eine eindeutige Wahrnehmung für „Selbst“ und eine natürliche Kernidentität zu entwickeln. Diese Begriffe ermöglichen ein Verständnis für beides, die äußere Welt und die innere Welt der Gedanken und Gefühle. Das Programm endet mit einer Zusammenstellung von Begriffen, die sich auf die Rolle der Person in Beziehungen mit anderen konzentrieren. Jeder Begriff beruht auf einem einfachen Inhalt, und die Begriffe werden der Reihe nach behandelt, wobei jeder neue Begriff jeweils auf vorher gemeisterten Begriffen aufbaut. Die Begriffe sind eher anhand von Erfahrung entwickelt worden als entlang einer psychologischen Theorie. Statt theoretisch zu entscheiden, welche typischen Entwicklungsschritte von autistischen Klienten nachvollzogen werden sollten, wurden die Davis-Begriffe aus der praktischen Erfahrung mit Kindern und Erwachsenen entwickelt.
Mit diesem Ansatz ist der Lernprozess natürlich und kann den Bedürfnissen der Person angepasst und entsprechend geführt werden. Der Einsatz von Knete sorgt dafür, dass der Lernende aktiv teilnimmt. Darüber hinaus liefert das Kneten eine Methode, abstrakte Begriffe darzustellen und so Begrenzungen der sprachlichen Möglichkeiten zu überwinden, und es ist auf Lernstärken im bildlichen Bereich ausgerichtet, die häufig bei Autismus
vorkommen. (1)
Die geführte Erforschung der Begriffe und der Dialog erweitern und verstärken die Einsichten, die beim Kneten gewonnen werden, und helfen dem Autisten, die Begriffe auf Beobachtungen von Menschen und Ereignissen zu beziehen. Der Autist wird ebenfalls langsam darauf hingeführt, größere Aufmerksamkeit auf andere Menschen zu richten, denen man während der Erkundung begegnet, indem man die Beobachtung sowohl als Weg zur Veranschaulichung als auch zur Erweiterung der Ideen, die beim Kneten erforscht wurden, benutzt.
Weil es eine festgelegte Zusammenstellung von Begriffen und Reihenfolge bei der Anleitung gibt, können der Berater, der Autist und die Familienmitglieder den Fortschritt im Verlauf des Programms einfach beurteilen. Fortschritt wird an der Fähigkeit des Autisten gemessen, jeden Begriff zu erkennen und seinerseits zu erklären, sowohl in Knetform als auch in der realen Welt. Weil jede Begriffsbeherrschung in der gleichen Reihenfolge abläuft, wird sich der Autist mit dem Ansatz wahrscheinlich immer wohler fühlen und im weiteren Verlauf des Programms wirksamer arbeiten.
5. Fokus auf Selbstverständnis
Ron Davis wusste aus der eigenen Kindheit, dass sein Autismus in gewisser Weise gleichgesetzt war mit einer Wahrnehmung, „alles und nichts gleichzeitig zu sein“, und dass er erst die Schritte der Individuation und dann die der Identitätsentwicklung machen musste, bevor er in der Welt funktionieren und eine Beziehung zu anderen herstellen konnte. Also war es für ihn offensichtlich, dass das Erlangen von einem Verständnis des „Selbst“natürlicherweise der erste Schritt war, den jeder Autist machen musste, bevor er fähig sein konnte, sich der sozialen Welt mit anderen anzupassen oder darin zu funktionieren.
Akademische Forscher haben erst in jüngster Zeit angefangen, sich auf die Bedeutung der Selbst-Konzeptualisierung und die Rolle, die dies in den Denkprozessen und dem funktionalen Verhalten von autistischen Menschen spielt, auszurichten. (2) Forscher bestätigen nun, dass das „Selbst“ „eines der wichtigsten Themen in der Autismusforschung“ ist, aber die aus der Forschung abgeleiteten Ideen wurden noch nicht dazu benutzt, um neue therapeutische Ansätze für Autismus zu entwickeln. (3) Meistens konzentriert sich die therapeutische Vorgehensweise bei Autismus direkter auf die Fähigkeit des Autisten, mit anderen in Beziehung zu treten, und beruht darauf, neue Verhaltensweisen zu unterrichten, wie etwa den Augenkontakt anzuregen oder Konversationsfähigkeit zu üben.
Das Davis®-Programm baut auf der genauen Erarbeitung von Begriffen auf, die mit dem Selbst und dem Selbstverständnis in Zusammenhang stehen. Zusätzlich zu dem potentiellen Nutzen, den die Methode autistischen Menschen bietet, wird das Davis-Programm wohl auch die zukünftige Forschung anregen und beeinflussen, und zwar hinsichtlich der Rolle, die die Selbstwahrnehmung für die Entwicklung eines Verständnisses für soziales Miteinander spielt, das für Autisten schwer nachvollziehbar ist.
Fallbeispiel: Tagebuch eines Davis-Programms
Die Davis®-Beraterin Karen LoGiudice
hat ein Tagebuch über den Arbeitsverlauf mit einer jungen Frau Anfang Zwanzig
geführt. Amber lebte in einer Wohngruppe und nahm an einem Tagesprogramm teil,
das Aktivitäten wie zum Beispiel Kunstprojekte beinhaltete. Als Karen sie zum
ersten Mal traf, war sie sehr still und beantwortete die meisten Fragen mit
einem schnellen „Ja“ oder „Nein“. Als sie eintraf, um ihr Programm zu beginnen,
waren Ambers Eltern besonders besorgt über Verhaltensweisen, die Probleme in
der Wohngruppe verursachten. Amber zeigte wenig Interesse an den Aktivitäten und
Unterhaltungen der anderen um sie herum, und ihre physischen
Koordinationsfähigkeiten war sehr schlecht. Ihre Eltern brachten sie regelmäßig
zu den Sitzungen mit Karen und holten sie wieder ab. Das Davis-Programm wurde
im Laufe von fünfzehn Tagen abgeschlossen, welche in drei separate einwöchige
Blocks und über einen Zeitraum von sechs Monaten verteilt waren. Der
ausgedehnte Zeitplan gab Karen die Möglichkeit, die Veränderungen zu
beobachten, die zwischen den Blöcken in Ambers Leben aufgetreten waren, als die
in jeder Beratungswoche eingepflanzten Keime Wurzeln bekamen und sich
entwickelten.
1. Woche, Oktober. Individuation abgeschlossen. Identitätsentwicklung durch die Begriffsbeherrschung bis zum Begriff „Überleben“:
1. Tag: Amber ist superstill und spricht nicht viel. Ich vermute, sie hat größere Sprachfähigkeiten, als es den Anschein hat. Amber hat die Entspannung und Orientierung, auditive Feineinstellung und Kooshball-Übung gut aufgenommen. Als sie den Ton der akustischen Orientierung hörte, überkam sie ein Zustand der Ruhe. Ihre Mutter war fassungslos, als sie hörte, dass Amber einen Kooshball fangen konnte, während sie auf einem Bein stand. Ihr feinmotorisches Geschick ist grob – deshalb ist das Kneten für sie nicht ganz einfach. Die Qualität ihrer Knetarbeit verbesserte sich im Laufe des Tages ein bisschen, besonders bei den Buchstaben. Ich glaube, mit zunehmender Erfahrung öffnet sie sich der Sache mehr.
2. Tag: Amber war fröhlich, als sie herein kam. Ihr Vater berichtete, dass sie begeistert von den Kooshbällen war und dass auch er über ihre Fähigkeit, die Bälle zu fangen, überrascht ist. Er sagte, dass sie mit ihrer Mutter auf dem Heimweg weiter Veränderungen gesucht und besprochen hätten. Sie reagiert auch gut auf das Hören von dem Ting-Klang. Sie hat es heute drei Mal gehört (jeweils den ganzen Acht-Minuten-Track). Amber zeigte an diesem Nachmittag Zeichen der Individuation. In einer Pause sprach sie mich das erste Mal direkt an und stellte eine Frage zu dem Lärm bei ihrem Tagesprogramm. Sie sagte, die anderen Leute machen zu viel Lärm, und das stört sie sehr. Sie fuhr fort, dass eine andere Frau sie fürchterlich beschimpft und dass sie das nicht mag. Sie sagte, dass es von der Frau nicht in Ordnung ist, sie so zu behandeln.
3. Tag: Amber kam fröhlich herein. Als wir Konsequenz, Ursache-Wirkung, vorher-nachher überprüften, war ich überzeugt, dass sie es hatte! Das wurde weiter bestätigt, als wir Zeit bearbeiteten. Wir machten unsere erste „Erkundung außer Haus “ zum Baumarkt und zu Dunkin Donuts. Wir haben alles Mögliche mit Hilfe der Stoppuhr gemessen (hinsichtlich Ursache und Wirkung beobachtend). Ich merkte, dass das Kneten immer leichter geht. Amber ist sicherer bei der Modellerstellung, auch wenn sie immer noch Anleitung braucht. Ihre Mutter erzählte, dass Amber zum ersten Mal überhaupt zu ihr kam und sagte: „Willst du wissen, woran wir heute gearbeitet haben?“ und dann die Begriffe Schritt für Schritt durchging. Ihre Mutter sagte, sie habe sich gewundert: „Ist das die gleiche Amber, die ich seit zweiundzwanzig Jahren kenne?“
5. Tag: Die Wiederholung von Reihenfolge war fantastisch. Amber wusste nicht nur die Bedeutung sicher, sondern sie schaute auch konzentriert auf die Knete, um jedes einzelne Teil davon zu zeigen. Es war das erste Mal, dass ich eine Intention bei ihr sah. Ordnung und Unordnung gingen auch gut. Wir gingen zum Lebensmittelladen, um die Begriffe in der Außenwelt zu untersuchen, und es war großartig. Wir sprachen auch über Ordnung und Unordnung in Bezug auf ihre Werkzeuge und auf bestimmte Situationen. Es war toll, sie darauf Bezug nehmen zu hören, wie sie sie in ihrem Leben benutzen könnte – „Was wäre für dich der richtige Zustand in ___ Situation? Welche Werkzeuge würdest du dann benutzen? Was müsstest du tun, um in dir Ordnung zu schaffen?“ Sie beantwortete die Fragen mit Leichtigkeit. Bestehenbleiben und Überleben rundeten unsere Woche ab – es lief gut. Ihre Mutter war überrascht und sehr beeindruckt, als sie sah, wie wir mit den Kooshbällen spielten und Amber, ausbalanciert wie ein Felsen, auf die Bälle reagierte, die auf sie zukamen.
...Fortsetzung folgt im nächsten Monat.
Auszug aus der Übersetzung des Buches: “Autism and the Seeds of Change” von Abigail Marshall mit Ronald D. Davis, Übersetzung: Dr. Andrea Paluch, erscheint voraussichtlich Mai 2013.
Im deutschsprachigen Raum und Luxembourg gibt es inzwischen 8 ausgebildete Davis®-Autismus-Berater/innen, die Sie ebenfalls bei den Davis-Berater-Adressen finden, oder aber per Email erfragen können: info@dyslexia.de.
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(2) Die erste Forschungsstudie zur Selbstwahrnehmung im Autismus ist ein Bericht aus dem Jahr 1999. Er handelt von drei Erwachsenen mit Asperger Syndrom, die ihre eigenen Gedanken notieren und beschreiben sollten. Vgl. Frith und Happé (1999).
(3) Vgl. Lombardo und Baron-Cohen, „The Role of the Self in Mindblindness in Autism“ (2011), und Hobson, „Explaining Autism: Ten Reasons to Focus on the Developing Self”, (2010).
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