In den ersten 38 Jahren meines Lebens konnte ich praktisch
nicht lesen und schreiben – mittlerweile habe ich dieses Problem so gründlich
überwunden, dass ich ein Buch schreiben und sogar als Hörbuch einlesen konnte!
Wie war das möglich?
Dazu habe ich Folgendes herausgefunden: Legasthenie entsteht
weder durch Hirnschädigungen noch durch Nervenläsionen. Sie wird auch nicht
durch eine Fehlfunktion des Gehirns, der Hör- oder Sehnerven hervorgerufen.
Sondern Legasthenie ist das Ergebnis einer besonderen Art des Denkens und eine
natürliche Reaktion auf Verwirrung!
Vor der Erfindung der Schrift gab es keine Legasthenie,
sondern Menschen mit dem Talent der Legasthenie waren vermutlich
wegen ihres guten Gedächtnisses für die gesprochene Sprache die Bewahrer
und Überlieferer der Entstehungsgeschichte des Volkes (wie wir sie heute noch
z.B. bei den Maori finden, die keine Schrift hatten).
Unser Schulsystem basiert ja vor allem auf Lesen und
Schreiben, insbesondere bei der Leistungsmessung – hierbei schneiden
Legastheniker schlecht ab und es kann dadurch aussehen, als hätten sie eine
Intelligenzminderung.
Dies ist ein echter Nachteil unseres Umganges mit Sprache und
unserer Pädagogik! Aufgrund meiner Erfahrungen durch die Arbeit mit mehr als
1000 Legasthenikern habe ich folgende Theorie darüber entwickelt, wie
Legasthenie während der Kindheit entsteht:
1. Ein Kind entdeckt bereits im Alter von 3
Monaten, wie es unvollständige Wahrnehmungen durch den geistigen Akt der
Imagination vervollständigen kann. Dieses Talent kann später im Leben zu
Legasthenie führen. (Siehe Beispiele im Buch „Legasthenie als Talentsignal von
R.D.Davis).
2. Während der frühen Kindheit nutzt das Kind
dieses Talent, um Gegenstände in der Umgebung zu erkennen und einzuordnen und
um künstlerische oder kinästhetische Fähigkeiten zu entwickeln. Das Kind denkt
visuell und in Inhalten – dadurch ist es nicht darauf angewiesen,
sprachgebundenes Denken auszubilden, das ja viel langsamer ist und als innerer
Monolog abläuft.
3. Gegen Ende der Kindergartenzeit,
spätestens in der ersten Klasse, wird vom Kind erwartet, dass es beginnt zu lesen!
Geschriebene Sprache – zusammengesetzt aus phonetischen Symbolen – ist ein
Rätsel.
In diesem Alter desorientiert sich das Kind
automatisch (wie in Punkt 1 beschrieben), um die Dinge in der Umgebung zu
erkennen und zu verstehen. Bei realen Dingen funktioniert es prima, „sich ein
Bild davon zu machen“, was es sein könnte – bei Buchstaben jedoch macht es
wenig Sinn, sie falsch herum oder in einer neuen Ordnung wahrzunehmen: ihre
Bedeutung erschließt sich dadurch nicht.
4. Stattdessen wird das Kind immer
verwirrter und desorientierter. Es hat den Verdacht, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Dieser Verdacht wird durch die Lehrer, die anderen Schulkinder, die Schulbehörde und manchmal sogar von den Eltern bestätigt. Jeder regt sich auf und das „überforderte Kind“ regt sich auch auf! Als Folge können Verhaltensprobleme auftreten.
verwirrter und desorientierter. Es hat den Verdacht, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Dieser Verdacht wird durch die Lehrer, die anderen Schulkinder, die Schulbehörde und manchmal sogar von den Eltern bestätigt. Jeder regt sich auf und das „überforderte Kind“ regt sich auch auf! Als Folge können Verhaltensprobleme auftreten.
5. Wenn nun niemand eingreift und angemessene
Lehrmethoden anbietet, hat das Kind keine andere Wahl, als sich irgendwie durch
die Schulzeit zu kämpfen, möglicherweise in einer Sonderschule oder unter dem
Einfluss von Drogen wie Ritalin oder Cylert.
6. Im Alter von 8 oder 9 Jahren entwickelt
das Kind allerlei Tricks wie Auswendiglernen, Lesen und Schreiben vermeiden -
oder sich auf andere verlassen. In den sogenannten praktischen Fächern wie
Naturwissenschaften, Musik, Kunst und Sport kann das Kind zur Bestform
auflaufen, aber Fächer, in denen viel Lesen und Schreiben gefragt sind, erlebt
es als Tortur.
7. Wenn in dieser Situation niemand dem Kind
Mitgefühl und Respekt zeigt, leidet sein Selbstwertgefühl.
8. Nach dem Schulabschluss beginnt es, das
„Handicap“, funktioneller Analphabet zu sein, zu überwinden oder umgeht es
(z.B. mithilfe einer Sekretärin), denn Legastheniker bringen es durchaus weit
in ihrem Beruf.
9. Wenn der Legastheniker erwachsen ist und
immer noch unfähig, richtig zu schreiben und zu lesen, bleibt diese Tatsache
aus Scham sein Geheimnis. Er ist überzeugt, dass er nicht nur dumm, sondern
auch wertlos ist. Mit diesem unvorteilhaften Selbstbild können
erwachsene Legastheniker verschlossen und feindselig werden.
Der wichtigste Teil einer Behandlung der Legasthenie (oder
anderer Lernprobleme wie ADD oder Hyperaktivität) ist deshalb sicherlich die
Wiederherstellung des Selbstwertgefühls. Das Vorgehen, das in dem Buch „Das Talent
der Legasthenie“ beschrieben wird, versetzt eine vorher „lernbehinderte Person“
in die Lage, innerhalb von 30 Stunden die Grundlagen des Lesens und
Schreibens zu erlernen. Nach einigen Monaten der Anwendung des Gelernten können
die meisten von ihnen altersentsprechend lesen, schreiben und lernen. Die
wichtigste Lektion ist jedoch, dass sie das „Dummsein“ verlernen!
Wie können wir verhindern, dass Kinder ihr Selbstwertgefühl
verlieren? Meine Kollegin Dr. Ali schlug vor, dass Sie die Wörter „blöd“, „dumm“
und „überfordert“ aus Ihrem Sprachgebrauch streichen. Sie sollten Legastheniker
außerdem weder für Fehler kritisieren noch ihnen das Gefühl geben, dass etwas
mit ihnen nicht stimmt. Bemühen Sie sich lieber zu verstehen, wie Legastheniker
denken und heben Sie ihre Stärken hervor. Finden Sie angemessene Methoden, um
den Kindern beim Lernen, Lesen und Schreiben zu helfen. Denken Sie daran, dass
manche brillante Kinder erst mit 8 oder 9 Jahren bereit sein könnten, Lesen und
Schreiben zu erlernen. Sie werden die Mitschüler schneller einholen, wenn sie
nicht von Selbstzweifeln belastet sind.
Wenn Sie Kinder beim Lernen unterstützen, betrachten Sie
Symbole oder Wörter als Rätsel, die spielerisch gelöst werden können. Das darf
Spaß machen! Dies wird in Kapitel 28 und 29 von „Das Talent der
Legasthenie“ behandelt. Sprachfertigkeiten sind prima, aber es gibt andere wichtige
Fertigkeiten fürs Leben und es gibt „Erfahrungslernen“. Trauen Sie
Legasthenikern mehr davon zu und Sie werden die Erfahrung machen, dass sich hinter
der „Lernschwäche“ eigentlich ein „Genie in Verkleidung“ verbirgt oder
zumindest ein hohes Maß an Intelligenz und Fähigkeiten, die Legastheniker in
sich tragen, seit sie geboren wurden!
Übersetzung des
Originalartikels, der veröffentlicht wurde unter:
Davis, R.D. & Braun, E.M. (1995). Education vs. Child Development: How Dyslexia Happens. Retrieved February 05, 2013 from Davis Dyslexia Association International, Dyslexia the Gift Website: http://www.dyslexia.com/library/edart.htm, Übersetzung: Astrid Grosse-Mönch.
Davis, R.D. & Braun, E.M. (1995). Education vs. Child Development: How Dyslexia Happens. Retrieved February 05, 2013 from Davis Dyslexia Association International, Dyslexia the Gift Website: http://www.dyslexia.com/library/edart.htm, Übersetzung: Astrid Grosse-Mönch.
"Legasthenie ist ein Gespenst und Gespenster gibt es nicht" hat meine verst. Kollegin immer sehr deutlich gesagt und "Legasthenie ist keine LERNschwäche sondern eine LEHRschwäche." das kann ich als Ich-kann-Schule-Lehrer vollinhaltlich bestätigen.
AntwortenLöschenEs müsste doch langsam selbst dem Blindesten auffallen, dass a) Legasthenie seit dem KMK-Beschluss vom April 1978 - also seit 35 Jahren - offiziell gefördert wird und dass wir längbst mehr als doppelt soviele Rechtschreibfehler machen wie damals.
Ein gigantischer Erfolg also.
Nur gerade in der entgegengesetzen Richtung.
Das Problem ist gar nicht die sog. Legasthenie.
Das Problem ist, dass die Legasthenie stets im Zusammenhang mit der angewandten Pädagogik und Therapie nicht schwindet sondern wächst und wächst und wächst.
Ich kann als Ich-kann-Schule-Lehrer nur bestätigen, dass die betroffenen Kinder nicht dümmer sondern intelligenter als die anderen Kinder sind. Sie sind zu FEIN BEGABT für die übliche PLUMPE & GROBE PÄDAGOGIK. Die Pädagogik nschlöägt iuhre Talente buchstäblich in die Flucht und drängt dann auch noch ein völlig verkehrtes Bild von ihnen auf. Dieses falsche Selbstbild wird nicht selten ein ganzes Leben lang per AUTOSUGGESTION unbewusst weiterbetrieben.
Schule ist im Wesentlichen der Ort, wo man verkehrt mit seinen besten und entscheidendsten verkehrt umgehen lernt.
Das ist ein Fehler, der einem ständig zeigt, was fehlt, und somit ist das Problem jederzeit einfach zu lösen. Ich habe das immer wieder an Ich-kann-Schule-Beispielen praktisch aufgezeigt.
Dafür muss man allerdings den gelernten verkehrten Umgang mit sich und seinen Talenten erkennen und korrigieren.
Guten Erfolg!
Franz Josef Neffe
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenSehr geehrter Herr Neffe,
AntwortenLöschenvielen herzlichen Dank für Ihren wertvollen Kommentar und die bestätigenden Erfahrungen, die Sie schildern.
Wir freuen uns, dass die Ansicht bzw. Überzeugung "Lernprobleme sind nicht Probleme, die von den Lernenden erzeugt werden", auch von anderen so erlebt und erkannt wird.
Wir würden sehr gerne Ihren Kommentar in unserem nächsten Newsletter veröffentlichen. Sind Sie damit einverstanden?
Wir würden uns auch über einen näheren Kontakt zu Ihnen und Ihrer Arbeit sehr freuen.
Wenn Sie wollen, können Sie uns Ihre Kontaktdaten an info@dyslexia.de vermitteln mit der Bitte der Weiterleitung an mich. Dann würde ich Sie gerne persönlich kontaktieren.
Es würde mich freuen, von Ihnen zu hören, auch Ihnen guten Erfolg,
Ioannis Tzivanakis – Davis-Lernverband-Leiter
Gerne. Mail ist unterwergs.
AntwortenLöschenHerzlich grüßt
Franz Josef Neffe